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Hinter den Kulissen von ARTE: 16 Fragen an Irene Selle |
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3) War das Übersetzen aus der Not geboren, oder hatten Sie schon immer den Wunsch, später einmal Texte zu übersetzen?
Es war keineswegs aus der Not geboren, sondern hat mich von der Schule an wie selbstverständlich begleitet. Im Studium und in den 17 Berufsjahren vor ARTE war es stets Teil meiner Arbeit, und ab 1992 ist es dann – zusammen mit dem Dolmetschen – zu deren Schwerpunkt geworden. Angestoßen wurde dieser Schwerpunktwechsel allerdings durch historisch-politische Umstände: Nach der Wende wurde im Zuge der Wiedervereinigung auch die deutsche Wissenschaftslandschaft umgestaltet. Ich hatte die Zusage für eine Universitätsstelle in der Tasche und wurde fast zeitgleich bei dem neu gegründeten Europäischen Kulturkanal in Straßburg angenommen, wo ich mich ebenfalls beworben hatte. Es war keine leichte Entscheidung, aber ich ließ mich auf das Abenteuer ein, für den neuen Job Stadt, Land und Beruf zu wechseln – und habe es nie bereut. Jetzt konnte ich das, was mir immer Freude bereitet hatte, stärker ausleben und weiter vervollkommnen, noch dazu in einer aufregenden Zeit: der Geburt eines in seiner Art einzigartigen Senders, der voll meinen Intentionen entsprach. Offenbar war der Keim für diese Entscheidung bereits viel früher angelegt. Mit dem (nach-)schöpferischen Vorgang des Übersetzens war ich nämlich schon als Teenager in Berührung gekommen: Mein Vater übertrug damals für die Neuausgabe im Aufbau-Verlag sämtliche Dramen des Sophokles aus dem Griechischen ins Deutsche und las mir nahezu täglich die frisch übersetzten Szenen vor. Er war an meiner spontanen Reaktion interessiert und veränderte oft seine ursprüngliche Fassung auf meine kritischen Bemerkungen hin; oder wir suchten gemeinsam nach einer treffenderen Lösung. So bekam ich hautnah Einblick in das Handwerk (oder die Kunst) des Übersetzens.
4) Sehen Sie sich als bloße Übersetzerin oder als Übersetzerin und Autorin?
Das scheint mir eine falsche Entgegensetzung: Der Übersetzer ist ja auch „Autor“ im Sinne von „Urheber“ seiner Übersetzung. Je nach dem Grad der Entfernung vom Original handelt es sich um eine – mehr oder weniger freie – Adaptation, die aber dann auch als solche zu kennzeichnen ist. Das Entscheidende an der Arbeit ist, dass man keine Wörter übersetzt, sondern den Sinn überträgt, und zwar mit allen der Zielsprache eigenen Ausdrucksmitteln, die sich im Allgemeinen nicht mit denen der Ausgangssprache decken. Ein solches Herangehen setzt eine stufenförmige Loslösung von den syntaktischen Strukturen des Originals voraus, mit dem Ziel, eine größtmögliche Sinn- und Wirkungstreue zu erreichen. Eine Übersetzung soll im Idealfall so klingen wie ein Original, das heißt, gar nicht als solche wahrgenommen werden. Insofern stellt sie stets etwas Eigenes, „Gebautes“ dar und trägt auch eine persönliche Handschrift (ich rede hier nicht von standardisierten Texten). Die größte Herausforderung ist es, ein schlechtes Original in eine brauchbare Übersetzung zu verwandeln. In meiner Arbeit in der Abteilung Sprachendienst von ARTE (7 Dolmetscher-/Übersetzer-/Revisor-Stellen, hälftig mit Deutschen und Franzosen besetzt) werden uns von den verschiedenen Abteilungen und Redaktionen des Hauses sehr unterschiedliche Textsorten zur Übersetzung gegeben, vor allem programmbegleitende Texte für Presse und Internet, die inhaltlich die ganze Bandbreite des Angebots des deutsch-französischen, europäisch orientierten Kultursenders abdecken und teilweise leicht adaptiert werden müssen. Daneben gibt es auch Medienpolitisches, Administratives, Juristisches, Technisches, Finanzielles usw. zu übersetzen. Da wir die Perspektive des Ziellandes mitdenken, müssen wir interkulturellen Transfer leisten. Und immer sind größte Sorgfalt und gründliche Recherchearbeit gefragt.