Von Aude Louistisserand
Übersetzung: Marina Hofmann
In einem Interview vom 30. Dezember 2010 im Züricher Tages Anzeiger verglich der kosovarische Premierminister, Hashim Thaçi, den Bericht von Dick Marty über die unmenschlichen Behandlungen nach dem Kosovo Konflikt, mit der „Propaganda von Goebbels“. Der Premierminister wird in dem genannten Bericht, der in den albanisch sprachigen Ländern wie eine Bombe einschlug, direkt dieser Sache beschuldigt. Etwas später als ein Jahr nach der Veröffentlichung des Berichts durch den Europarat in Straßburg, scheint es, dass die Angelegenheit vertuscht worden ist. Der vorliegende Artikel versucht die Problematik des Berichts sowohl aus der Sicht des Autors als auch aus der Sicht der Kosovo Albaner, die direkt von dieser Angelegenheit betroffen sind, darzustellen.
Hierbei müssen zwei miteinander verflochtene Geschichten voneinander unterschieden werden. Erstens der mutmaßliche Organhandel, der dem Kosovokonflikt 1999-2000 folgte und zweitens, der aktuelle Fall der Medicus Klinik, in der der Handel im Jahr 2003 erneut begann. Letztere soll im Folgenden nicht beachtet werden, da sie im Zusammenhang mit dem Nachkriegshandel steht.
Der Auslöser: Der Bericht von Dick Marty
Dick Marty, ist ein Schweizer Abgeordneter und war, bis er sich 1989 der Politik zuwandte, Generalstaatsanwalt des Kantons Tessin. Er ist Mitglied der radikaldemokratischen Partei und der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Bevor er auf Gesuch des Rats zwei Jahre lang Nachforschungen über den Kosovo und Albanien anstellte, um seinen Artikel zu verfassen, führte er Untersuchungen in den Geheimgefängnissen der CIA in Europa durch.
Dieser 27-seitige Bericht wurde am 16. Dezember 2010 mit dem Titel „Unmenschliche Behandlung und unerlaubter menschlicher Organhandel im Kosovo“ vor dem Europarat veröffentlicht. Er prangert die Häftlinge an, die am Ende des Konflikts von der kosovarischen Befreiungsarmee (UÇK) gefangen genommen wurden. Die Anschuldigungen sind nicht neu, der Organhandel wurde bereits in den 2008 erschienenen Memoiren des ehemaligen Generalstaatsanwalts des UN-Kriegsverbrechertribunals, Carla Del Ponte, erwähnt. Der Handel muss im „Chaos nach dem Krieg“ entstanden sein.
Der Bericht von Dick Marty enthält Informationen über mutmaßliche Tatsachen. 1998 und 1999 wurden mehrere Hundert von der UÇK gefangen genommene Häftlinge in Haftzentren nach Albanien gebracht. Es handelt sich dabei vor allem um Serben aus dem Kosovo, aber auch Roma und während des Krieges mit Serbien der „Kollaboration“ beschuldigte Albaner. Eines der bekanntesten Zentren ist das berühmte „Gelbe Haus“ des Dorfes Ripë in der Nähe von Burrel im Norden von Albanien. Wenn sich Patienten meldeten, wurde ein Häftling in eine kleine Klinik in Derven, in der Nähe von Fushë-Kuja ungefähr 15km von Tirana gebracht. Dann traf ihn eine Kugel im Kopf und seine Organe wurden ihm entnommen. Die Häftlinge waren bereits bevor sie „verschwanden“ unmenschlichen Behandlungen und Erniedrigungen ausgesetzt.
Dick Marty behauptet, dass der Handel von der „Gruppe aus Drenica“, einem kleinen Kern bestehend aus Kämpfern der UÇK, die sich um zwei Schlüsselfiguren, nämlich Hashim Thaçi, den kosovarischen Premierminister, unterstützt durch die Vereinigten Staaten, und Shaip Muja, Chirurg und Gesundheitsberater von Thaçi, gruppierten, angeführt wurde. Der Organhandel wurde durch Heroinhandel und den Handel mit anderen Betäubungsmitteln gestützt.
Die Problematik des Berichts
Der Bericht wurde einer Kommission des Europarats zu Diskussionszwecken am 16. Dezember 2010 vorgelegt und am 25. Januar 2011 von der sehr großen Mehrheit, die eine seriöse Untersuchung über die unmenschlichen Behandlungen während und nach dem Krieg forderten, angenommen. Um die Problematik eines solchen Berichts über einen Konflikt in dem die EU eine wichtige Rolle spielte, besser einordnen zu können, soll hier noch einmal ins Gedächtnis gerufen werden, was der Europarat ist. Der Rat vereinigt 47 Mitglieder, das heißt fast den gesamten europäischen Kontinent. Sein Ziel ist es, unter Beachtung der Europäischen Menschenrechts Konvention (EMRK) in Europa einen demokratischen und rechtlich gemeinschaftlich organisierten Raum zu schaffen. Die EMRK wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angenommen.
Als der Bericht veröffentlicht wurde, traten auch innerhalb des Rates Unstimmigkeiten zwischen den Abgeordneten auf. Zwei deutsche Abgeordnete, Bernd Posselt und Doris Pack, warfen dem Bericht vor, keinerlei konkrete Beweise, abgesehen von einem alten Militärgebäude, welches das Büro der Klinik gewesen sein soll, zu beinhalten.
Wenn der Handel nachgewiesen wird, würde das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergleichbar mit dem von Srebrenica in Bosnien-Herzegowina aufdecken. Das Verbrechen stellt wichtige politische Persönlichkeiten des Kosovo, wie den Premierminister Hashim Thaçi, wie auch europäische Institutionen und Delegationen auf diesem Gebiet in Frage. Tatsächlich hätte sich der Handel mindestens bis 2001, also zwei Jahre nach dem Eingreifen der NATO und dem Protektorat der Vereinten Nationen, fortgesetzt. Die internationalen Behörden vor Ort im Kosovo „haben nichts unternommen um Licht in diese Sache zu bringen, obwohl sie Beweise dafür hatten“, so kann man es im Bericht lesen. „Der Großteil der Tatsache war zahlreichen Instanzen bekannt und trotzdem herrscht bis heute Schweigen“, bemängelt Dick Marty anlässlich einer Pressekonferenz in Paris. Der Fernsehsender France 24 kam
Unbeantwortete und umstrittene Fragen über den Bericht
Die exakte Anzahl an Opfern bleibt unbekannt. Die serbische Justiz spricht von 500 nach Albanien verschleppten Personen. Parallel dazu konnten 2001 60 Patienten (erhobene Zahl) in einem Jerusalemer Universitätskrankenhaus von einer Nierentransplantation profitieren, wie der Bericht von Marty bekräftigt. Genauso wie 2008 die Festnahme eines Türken an der Grenze der gerade eine Nierenentfernung hinter sich gebracht hatte und Teil des mutmaßlichen Organhandels während der 2000er Jahre gewesen ist.
Dennoch wurden die Körper noch nicht wiedergefunden und die albanische Bevölkerung stellte sich dem Schweizer Parlamentarier in den Weg. Dick Marty wurde als „Gegner der Unabhängigkeit des Kosovo“ und als „Feind der albanischen Bevölkerung“ bezeichnet und „antiamerikanische“ Vorwürfe wurden ihm gegenüber formuliert.
Der Bericht von Dick Marty wurde von den Albanern wie ein Trauma erlebt. Im Kosovo wird der Bericht als Verleumdung und als direkter Angriff auf die Proklamation der Unabhängigkeit des Landes und die UÇK betrachtet. Die Albaner im Kosovo glauben nicht an den Bericht und sagen selbst, dass ihr Premierminister zwar weit davon entfernt sei ein Heiliger zu sein, aber einen Organhandel habe es nicht gegeben. Die Albaner, die in der Nähe der mutmaßlichen Klinik leben, behaupten, dass ein derartiger Handel niemals unbemerkt hätte bleiben können. Der Kosovo bleibt nach seiner Unabhängigkeitserklärung am 17. Februar 2008 immer noch unbeständig und wurde noch nicht von allen europäischen Ländern anerkannt. Der diplomatische Konflikt mit Serbien bleibt bestehen und Dick Marty hat eine immer noch vorhandene Wunde der Albaner wieder aufgerissen.
Was seit dem Bericht unternommen hätte werden sollen
Die EULEX Delegation hat die Untersuchungen offiziell übernommen aber die Angelegenheit scheint im Keim erstickt worden zu sein. Versucht man damit wichtige kosovarische wie internationale Persönlichkeiten zu schützen? Es gibt ein Problem was den Zeugenschutz, ein Schlüsselelement der Untersuchung, angeht. Das ist ein wesentlicher Punkt, wenn die Fahndung beispielsweise gegen die ehemaligen Führer der UÇK aufgenommen wird. Der Kosovo ist ein kleines Land, wo sich jeder kennt, wo es kein Gesetz für den Zeugenschutz gibt und ein Standortwechsel der Zeugen wegen der kleinen Fläche außergewöhnlich schwer ist.
Heute scheint der Prozess der Medicus Klinik, welche ein Teil des „zweiten Organhandels“, der sich in der Peripherie von Pristina abspielen soll, schneller voran zu gehen als die Prozess nach dem Krieg. Außerdem werden die Untersuchungen wegen eines fehlenden Zutritts zu den mutmaßlichen Verbrechensorten in Albanien lahm gelegt. Das Land lehnt jegliche Untersuchung ab. Gerade wurde ein neues Sondereinsatzteam, welches die Untersuchung unter Leitung des Staatsanwalts John Williamson Clinton durchführen soll, eingesetzt.
Der Organhandel hat sich im apokalyptischen Kontext nach dem Konflikt abgespielt. Der Kosovo wird sein Nationalbewusstsein aufbauen müssen, aber das ist ein langer Prozess. Der Bericht von Dick Marty wurde im Kosovo und in Albanien sehr schlecht wahrgenommen, aber die Bevölkerung verlangt die Wahrheit. Ebenso hatte der Bericht eine sehr große Nachwirkung in der Schweiz, wo eine große albanische Diaspora lebt. Der Bericht der sich außerdem wenig auf materielle Beweise stützt, hat darüber hinaus die Grenzen des Balkans verletzt.
Quellen:
Le Courrier des Balkans, bei ben Andoni,
http://balkans.courriers.info/spip.php?page=article&id_article=16628&cdbvisu=16628
Le monde diplomatique, bei Jean-Arnault Dérens
http://www.monde-diplomatique.fr/carnet/2011-01-04-Kosovo
France 24, bei Rodolphe Kota
http://www.france24.com/fr/20110216-rapport-confidentiel-remet-cause-le-soutien-onu-a-lenquete-le-trafic-organes-kosovo
Video auf albanisch:
http://www.youtube.com/watch?v=ZQO8rF7jpHU