Von Hanna Gieffers, Robert Schmidt und Alain Le Treut
Übersetzung: Mike Plitt
Lektorat: Hannah Reckhaus
Bild: Jean-Luc Vallet
Philippe Frémeaux war von 1988 bis 2011 Chefredakteur des Magazins Alternatives économiques. Während eines Gastvortrags an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) erklärte er sich zu einem Interview mit zwei jungen deutschen Journalisten bereit: Hanna Gieffers und Robert Schmidt.
Hanna Gieffers (duett) – Welche Idee steckt hinter Ihrer Zeitung Alternatives économiques? Was ist Ihre Redaktionsrichtlinie?
Philippe Frémeaux – Wir möchten eine Zeitung herausbringen, die sich nicht nur an die Entscheidungsträger richtet. Wir versuchen eher, den Bürgern wirtschaftliche und soziale Fragen näher zu bringen. Dabei ist es nicht unser Anliegen, den Lesern Ratschläge zu geben, wie sie mehr verdienen können. Vielmehr sind wir der Meinung, dass die wirtschaftlichen Fragen dermaßen wichtig geworden sind, dass ein jeder sie verstehen können muss, um an den demokratischen Debatten über die Wirtschaft teilhaben zu können.
Robert Schmidt (duett) – Gibt es eine bessere Lösung (als den aktuellen Lösungsvorschlag) für Griechenland?
Philippe Frémeaux – Ich glaube, es ist normal, Griechenland für einen Teil der begangenen Fehlentscheidungen zur Zahlung aufzufordern. Die Frage besteht jedoch darin, wer diese Forderung «in Griechenland unterstützt»? Handelt es sich bei Griechenland um ein Land, dass in der Lage ist, ein Finanzsystem zu etablieren, in dem die reichsten Griechen im Rahmen ihrer Möglichkeiten an den öffentlichen Ausgaben beteiligt werden, z.B. durch ihr Steueraufkommen? Die andere Frage ist, ob wir Griechenland mit unseren Konditionen nicht in eine ausweglose Situation hineinmanövrieren.. Die Aussicht auf eine teilweise Annulierung der griechischen Schulden ist sicherlich wünschenswert. Letztendlich würde dies aber auf Kosten der Banken geschehen, die an den griechischen Staat oder an griechische Unternehmen Geld verliehen haben, vor allem französische und deutsche Banken wären davon betroffen.
Gieffers (duett) – Eine Frage bezüglich Polen: Vor einigen Wochen kam es zur vollständigen Öffnung des EU-Arbeitsmarktes (für Deutschland). Wie bewerten sie die Auswirkungen auf die deutsche und die polnische Wirtschaft?
Frémeaux – Ehrlich gesagt kenne ich mich hier nicht allzu gut aus. Ich glaube, dass Polen ein Land ist, das in den letzten Jahren relativ gut durch die Krise gekommen ist. Die Wirtschaft in Polen, soweit mir bekannt, ist eine wachsende Wirtschaft geblieben; sogar mit einer ziemlich hohen Wachstumsrate. Deshalb ist der Arbeitsmarkt in Polen weniger angespannt als in anderen europäischen Ländern. Des Weiteren konnten wir beobachten, wie Menschen wieder nach Polen zurückkehrten, nachdem sie in Länder emigriert waren, die ihren Arbeitsmarkt sehr schnell geöffnet haben (namentlich England und Irland). Obwohl sie in Polen weniger verdienen als in England und Irland, finden sie dort eher eine Anstellung, die ihren Qualifikationen entspricht. Wenn Sie eigentlich Ingenieur sind, sich aber als Kellner in London wiederfinden, dann verdienen sie vielleicht gut, letztendlich ist es aber wohl doch interessanter, als Ingenieur in Polen tätig zu sein. Und wenn es ein Land gibt, das sich eher noch in der Entwicklungsphase befindet, dem es gut geht und das Aussichten auf Arbeit bietet, sogar wenn Sie weniger verdienen als im Nachbarland, dann haben Sie keinen Grund zu emigrieren. Deshalb glaube ich nicht, dass es bedeutende Migrationsströme geben wird.
Schmidt (duett) – Sie haben gesagt, dass der freie Verkehr von Arbeitskräften das Problem des europäischen Arbeitsmarktes nicht lösen wird.
Frémeaux – Nein, ich sage nur, dass die Bevölkerung – Gott sei dank – nur schwach mobil ist. Wenn man die Gehälter zwischen Schweden, Deutschland, Bulgarien und dem Süden Portugals zusammenzählen müsste um einen Durchschnittswert zu ermitteln, dann würde Europa sich dem nicht widersetzen.
Schmidt (duett) – Besteht die Lösung nicht eher darin, in Europa einen Mindestlohn einzuführen?
Frémeaux – Die Idee eines europäischen Mindestlohns ist sehr komplex, weil der Wettbewerbsvorteil von wirtschaftlich rückständigeren Ländern in ihren niedrigen Löhnen liegt. Es gibt Probleme, die sind national: z.B. die Debatte « ob wir einen berufsübergreifenden Mindestlohn in Deutschland brauchen oder nicht» ?
Schmidt (duett) – Was halten Sie davon?
Frémeaux – Ich persönlich stehe dieser Idee aufgeschlossen gegenüber. Da sich der Teil der Lohnempfänger, die nicht durch ein Tarifabkommen abgedeckt sind, vermehrt, wäre ein Auffangmechanismus für diejenigen wünschenswert, die nicht in den Genuss eines Tarifabkommens und der damit verbundenen Vorteile kommen. Sollte ein europäischer Mindestlohn eingeführt werden, dürfte dieser aber nicht in allen Ländern gleich groß sein, schließlich muss man ja auch die Abweichungen in der Wettbewerbsfähigkeit beachten.
Ich halte selbst die bloße Tatsache für hervorragend, die Idee eines europäischen Mindestlohns zu akzeptieren und dessen Höhe auf europäischer Ebene zu diskutieren.
Gieffers (duett) – Oft hat man den Eindruck, dass die europäischen Medien wenig oder wenn, dann eher nur Negatives über Europa berichten. Was wäre Ihrer Meinung nach wichtig, um das Bild Europas mit Hilfe der Medien zu verbessern? Worin liegt der Schlüssel: In einer besseren Ausbildung der Journalisten oder in der Entstehung transnationaler Zeitungen?
Frémeaux – Zu diesem Thema kenne ich mich besser aus als zum polnischen Arbeitsmarkt! Ich glaube nicht an die Erschaffung europäischer Medien und zwar aus denselben Gründen aufgrund derer es derzeit auch keine europäische Öffentlichkeit gibt: man kann die selbe Information nicht allen Europäern verkaufen. Oder doch, falls sie diese an die Financial Times verkaufen, die ausschließlich an die kleine Gruppe der wirtschaftlichen Entscheidungsträger gerichtet ist. Aber wenn Sie wirklich an die Masse der Bürger adressieren wollen, dann vertreten Sie trotz der gleichen Sichtweise automatisch einen nationalen Standpunkt. Das wäre der erste Punkt.
Es ist wahr, dass in Frankreich sofort mit dem Finger auf Brüssel gezeigt wird, sobald die europäischen Institutionen eine unpopuläre Entscheidung treffen. Brüssel steht als Synonym für ein Europa, das uns Sachen aufzwingt, das entscheidet, etc. Ich habe praktisch noch nie einen Journalisten gesehen, der sagt : « Die Europäische Kommission hat entschieden, dass ... im Einklang mit der durch den Europäischen Ministerrat einstimmig getroffenen Entscheidung, an der auch der französische Minister Hervé Dupont teilgenommen hat, der für diese Direktive gestimmt hat, sie aber nun kritisiert, etc. Wieso kritisiert er diese jetzt, wenn er doch für sie gestimmt hat? »
Gieffers (duett) – Wieso schreiben die Journalisten ihrer Meinung nach nicht über solche Sachen?
Frémeaux – Ich glaube, dass ein so großes Land wie Frankreich umso pro-europäischer eingestellt ist, je mehr es sich selbst im Zentrum Europas sieht. Ich denke, dass da unsere schlechten Fremdsprachenkenntnisse hinzukommen. Die Tatsache, dass die Franzosen Fremdprachen nicht gut beherrschen, stellt für unsere Eliten ein ziemliches Handicap dar. Ich habe viel als Berater in Brüssel gearbeitet. Die Art und Weise, wie über Europa gesprochen wird, ist furchtbar, sie erinnert stark an die U.d.S.S.R.: alles ist gut, alles ist wunderbar, etc. Falls Sie Journalist sind, ist es doch zunächst Ihre Aufgabe, zu kritisieren und von den Dingen zu berichten, die nicht gut laufen. Aber man kann Europa auch auf eine emphatische Weise kritisieren, indem man das Projekt liebt und sagt: „Folgendes geht so nicht“. Dies jedoch ohne eine Einstellung, die sich gegen die europäische Ebene richtet, die als per se schlecht angesehen wird, während die nationale Ebene als per se gut gelte. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Vor sechs Monaten habe ich an einer Konferenz an einer Unviersität in Frankreich teilgenommen, die den Titel trug „ist Europa gescheitert ?“, was implizierte, dass Europa nicht das getan hat, was es hätte tun müssen. Ich begann also meinen Vortrag – so haben wir übrigens Jaques Barrot als Abonnenten von Alternatives Économiques gewonnen: er saß also neben mir und konnte es nicht glauben: „mir ist diese Frage sehr unangenehm“. Nie würden wir eine Konferenz mit dem Titel „ist Frankreich gescheitert ?“, „ist Deutschland gescheitert ?“ veranstalten. Nein, weil Frankreich von sich selbst als einer seit Ewigkeiten bestehenden Entität ausgeht, die sich für die von ihr erbrachten Leistungen nicht rechtfertigen muss. Wenn man sich Europa vorstellt als etwas, woran man teilnimmt, ist man Europäer und da befragt man es nicht wie einen Lieferanten: „Hat er seinen Vertrag richtig ausgefüllt? Hat er seinen Job gut erledigt?“
Nein ! Ich denke, dass die Vorstellung, Europa sei eine Art „Maschine“ die effizient arbeiten müsse, Dienste erweist, etc., sehr stark in unserem imaginären Kollektiv ausgeprägt ist.
Interview aufgenommen am 10.5.2011