Text : Pauline Trarieux
Übersetzung : Tina Schreiber
Fotos : Pauline Trarieux, marcinlachowicz.com und Swan of Kennet.
Am Anfang standen zwei Brüder, die in Frankreich wie in Deutschland, das Heranreifen dieser Kunst unterstützt haben: die Gebrüder Lumières in Frankreich entsprechend den Gebrüdern Skladanowski in Deutschland. Während die Franzosen eine erste Vorführung in privatem Rahmen (22. März 1895) vor einer öffentlichen und kostenpflichtigen Vorführung am 28. November 1895 organisieren, zeigen die Deutschen seit dem 1. November 1895 animierte Bilder öffentlich. Die anfänglichen und zögerlichen Versuche, die sofort einen großen Erfolg beim Publikum feierten, widmeten sich in Deutschland wie in Frankreich dem Dokumentarfilm. Sehr bald zeichnen sich jedoch Unterschiede ab.
Während der deutsche Film sich Aufklärungsfilmen zuwendet (Oskar Messter dreht 1903 den erotischen Film „Salomé“, der den Weg für pornographische Filme ebnet), konzentriert sich die siebente Kunst in Frankreich auf Fiktion und übernimmt eine künstlerische Position: die ersten Erfolge sind 1896 „La Fée aux choux“ von Alice Guy und 1902 „Die Reise zum Mond“ von Georges Méliès. Das Kino war ausschließlich stumm, dennoch hat der französische Film weltweit Erfolg und Frankreich produziert in dieser Zeit etwa 80% aller Filme. Ab 1905 kommt die siebente Kunst unter Einfluss der Franzosen Charles Pathé und Léon Gaumont sehr schnell ins industrielle und kapitalistische Zeitalter.
Damit der deutsche Film seinen Kurs beibehält, entstehen immer mehr Studios und Gesellschaften zur Filmauswertung. Diese helfen sozusagen am Anfang des 20. Jahrhunderts bei der Geburt des Phänomens der Kinostars (Asta Nielsen in Deutschland und Max Linder in Frankreich). Darüber hinaus kommen die typisch deutschen Themen und Genre Anfang der 1910er heraus: Filme über die Arbeiterklasse und Fantasyfilme, die von der deutschen Romantik inspiriert sind (1913 „Der Student von Prag“ von Paul Wegener). In dieser Epoche dominiert der französische Film die Weltbühne direkt gefolgt vom deutschen Film. Der erste Weltkrieg wird jedoch die Karten neu mischen.
In der Tat erkennt Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sein Film an der Stelle, wo sich die französische Vorherrschaft langsam verringert, einen maßgeblichen Platz in der Geschichte der siebenten Kunst einnimmt. Der künstlerische wie wirtschaftliche Wohlstand verfliegt jedoch mit dem Beginn des Krieges. Studios werden in Beschlag genommen und Dreharbeiten verboten (die Rohstoffe für einen Film waren zu teuer), die Produktion wird unterbrochen.
Hinzukommt, dass Frankreich einige Schwierigkeiten am Anfang der Wende zum Tonfilm hat. Außer einer Produktion mit der Verfilmung von bekannten Romanen wie „Das Rad“ (1923) und „Napoleon“ (1927) von Abel Gance, die einstimmig für innovativ gehalten werden, bricht eine Art Sendepause des französischen Films an. Man bemerkt nichtsdestotrotz, dass in dieser Zeit die Ästhetik des Films neu reflektiert wird. Durch die Abwanderung von Charles Pathé in die USA schlägt für die französische Vormacht das letzte Stündlein und es ist der Beginn der amerikanischen Dominanz.
Deutschland wiederum zeigt ein vielfältiges Kinoprogramm, in dem es die quälende Zeit des Ersten Weltkriegs und seine Krisengesellschaft reflektiert: Dies ist vor allem die Geburt des expressionistischen Films im Jahre 1920, der sich ganz in die vorher in der Malerei geborene künstlerische Bewegung einfügt, die in Reaktion auf den französischen Impressionismus entstanden ist. „Das Kabinett des Dr. Caligari“ von Robert Wiene besiegelt die Geburt dieser stummen Strömung. In groben Zügen kann man diese Strömung als Verwechslung zwischen Realität und Albtraum mit verzerrten städtischen oder gotischen Kulissen und einer durch mechanische und übertriebene Bewegungen gekennzeichnete Interpretation der Schauspieler in beängstigender und bedrückender Stimmung definieren.
Das ist der Höhepunkt des deutschen Films: wer hat wirklich noch nie „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“ (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau oder „Metropolis“ (1927) von Fritz Lang gesehen? Parallel zu dieser künstlerischen Bewegung, die auf der Verzerrung der Realität basiert, tauchen weitere Filmgenre auf, die zur Realität zurückkehren. Es handelt sich um Kammerspielfilme, die sich mit der Psychologie des Kleinbürgertums befassen („Der letzte Mann“ (1924) von Murnau), um Filme, die das städtische Elend und die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen („Die freudlose Gasse“ (1925) und „Loulou“ (1929) von Pabst) schildern und um Filme, die für die „Neue Sachlichkeit“ relevant sind und zum Dokumentarfilm zurückkehren.
Die 1920er Jahre stellen das Goldene Zeitalter des deutschen Films dar. Deutschland ist in Wirklichkeit das einzige europäische Land, das sich mit der Hollywoodfilmindustrie messen kann: bis auf ein relativ elitäres Kino, erfährt die Produktion von großen historischen Filmen („Madame Dubarry“ und „Anna Boleyn“ von Ernst Lubitsch), die in den größten Studios Europas gedreht und in großen Sälen gezeigt wurden, einen einzigartigen Erfolg. Die deutsche Produktion von Spielfilmen umfasst rund 400 Filme, während Frankreich nur etwa 100 Filme in den 1920er Jahren produziert. Die Zeit dieser kreativen Überfülle endet mit dem Beginn des Tonfilms, welcher die Geburtsstunde des „blauen Engels“ von Josef von Sternberg mit der legendären Marlene Dietrich darstellt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten zusammen mit der Einladung vieler deutscher Regisseure in die berühmtesten amerikanischen Filmstudios stellen das Ende des Goldenen Zeitalters dar.
In den 1930er Jahren und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kehrt sich die Entwicklung jedoch um: Deutschland macht eine fruchtbare aber nur wenig glänzende Zeit für den Film durch, die sich vornehmlich auf Propagandafilme (vor allem „Triumph des Willens“ (1934) und „Olympia“ (1936) von Leni Riefenstahl oder auch „Der ewige Jude“ (1940) von Fritz Hippler, „Jud Süß“ (1940) und „Kolberg“ (1945) von Veit Harlan) und auf volkstümliche Unterhaltung („Frauen sind doch bessere Diplomaten“ (1941) von Georg Jakoby, „Die große Liebe“ (1942) von Rolf Hansen und „Die Feuerzangenbowle“ (1944) von Helmut Weiss), die der Zensur unterworfen war, beschränkt. Viele Berühmtheiten gehen aus freiem Willen oder aufgrund der Rassenideologie des Dritten Reichs ins Exil. Die deutsche Filmindustrie profitiert währenddessen von einem Quasimonopol im besetzten Europa und belegt 1936 den zweiten Rang weltweit.
Auf der anderen Seite der Grenze wacht der französische Film, getragen von berühmten Schauspielern des Tonfilms u.a. Arletty, Jean Gabin, Louis Jouvet, Jean Marais, Michèle Morgan, Michel Simon, langsam wieder auf. Der poetische Realismus setzt sich als bevorzugtes Genre gefördert durch Regisseure wie Sacha Guitry, Jean Renoir oder Marcel Pagnol durch. Die Dialoge dominieren, die Grenze zwischen Theater und Kino verschwimmt. Während des Kriegs beschränkt die Zensur die Produktion nur ein wenig und sie verhindert nicht, dass die siebente Kunst in Frankreich seine bis heute größten anerkannten Meisterwerke produziert. „Der ewige Bann“ ist eine moderne Verfilmung von „Tristan und Isolde“ von Jean Cocteau und unter Regieführung von Jean Delannoy aus dem Jahre 1943 und „Kinder des Olymps“ von Marcel Carné, der 1945 in die Kinos kam.
Die Nachkriegszeit ist eine Übergangszeit für beide Filme. Deutschland zeigt zuerst ein für die Unmenschlichkeit der Nazis büßenden Film („Die Mörder sind unter uns“ (1946) und „Rotation“ (1949) von Wolfgang Staudte sowie „Ehe im Schatten“ (1947) von Kurt Mätzig), bevor sich entlang der deutsch-deutschen Grenze zwei neue Typen des Films entwickeln.
Es ist eine eher düstere Zeit für die siebente Kunst in Deutschland. Die Deutsche Demokratische Republik gibt sich mit Filmen zufrieden, die die Arbeiterklasse glorifizieren und den Klassenkampf veranschaulichen. Diese Filme stehen unter strenger Kontrolle durch die Sowjetunion, die die Kreativität ausbremst. Nur die Romanze „Die Legende von Paul und Paula“ (1973) von Heiner Carow entwischt den dominierenden Themen und der Zensur (wenigstens zu Anfang). Es ist bis heute ein Kultfilm in Deutschland. Die westdeutsche Kinoindustrie ist dagegen nur wenig produktiv, da sie durch die Alliierten beschränkt wird, die jede Konkurrenz in diesem Bereich zu unterdrücken versuchen. 1962 wurden nur 63 Filme in der Bundesrepublik Deutschland produziert.
Dagegen kehrt ihr Nachbar Frankreich in die erste Reihe zurück. Frankreich würdigt in einer Hommage seine Widerstandskämpfer (vor allem „La Bataille du rail“ (1946) von René Clément und „Drei Bruchpiloten in Paris“ (1966) von Gérard Oudry, der in den Jahren des größten französischen Erfolgs in Frankreich geblieben ist). Es folgen Kostümfilme („Fanfan der Husar“ (1952) mit Gérard Philipe und von Christian Jaque, „Der Bucklige“ (1959) mit Jean Marais und von André Hunebelle) und literarische Verfilmungen („Das Schweigen des Meeres“ (1947) von Jean-Pierre Melville sowie „Pläsier“ (1952) von Max Ophüls). Am Rande dieses realistischen Films, der einen großen Erfolg erlebt, entsteht die Bewegung, die den französischen Film zu seinem Höhepunkt führt: Die Neue Welle. Oft als wirtschaftlicher, technischer und künstlerischer Schnitt beschrieben, verurteilt diese Strömung den Akademismus, einer französischen Bewegung, die viele Regeln aufstellte, und stellt den Autor in den Mittelpunkt. Die Neue Welle verändert mit einem sorglosen und zynischen Ton in ihren Filmen die Art des Filmemachens radikal. Die Kameras sind viel leichter und erlauben es im Fahren zu drehen, die Filmrollen sind viel empfindlicher, sodass auch außerhalb des Studios bei Tageslicht gedreht werden kann. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit eine Synchronstimme zu unterlegen und eine gute Qualität der Filme zu erzielen. Die neuen und vor allem vielen (woher der Name „Welle“ kommt) Regisseure waren vorher oft Kinokritiker. Die Freiheit des Ausdrucks, manchmal auch der vulgären Ausdrücke, ist in den 1950er Jahren angesagt. „... und immer lockt das Weib“ (1956) von Roger Vadim, „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (1959) von Francois Truffaut und „Außer Atem“ (1960) von Jean-Luc Godard zeigen junge, unabhängige Müßiggänger im Lichte einer Gesellschaft über die ein neuer Wind der Moderne weht. Nun ist das Goldene Zeitalter für die siebente Kunst in Frankreich gekommen. Diese Bewegung wird übrigens auch einen Einfluss auf das deutsche Kino haben, die 1962 „Die neue deutsche Welle“ entstehen lässt. Protestfilmemacher dieser Zeit haben nur selten kommerziellen Erfolg, trotz guter Kritiken.
Zwischen 1975 und den 1990er Jahren tut sich aufgrund der Entwicklung des Fernsehprogramms der französische Film erneut schwer um auf sich aufmerksam zu machen. Der deutsche Film erwacht erneut. Das öffentliche Fernsehen gibt, im Gegenteil, dem deutschen Film sogar wertvolle Hilfestellung für die Finanzierung von Qualitätsfilmen wie „Heimat“ (1984) von Edgar Reitz. Dies ist die Geburtsstunde großer Regisseure wie Wolfgang Petersen („Das Boot“ (1981)) und Roland Emmerich, der jedoch in die USA auswanderte. Der deutsche Film genießt internationalen Ruhm. „Die Blechtrommel“ verfilmt von Volker Schlöndorff erhält bei den Filmfestspielen in Cannes 1979 die Goldene Palme.
Das Ende der 1990er Jahre und der Anfang des 21. Jahrhunderts markieren für den deutschen wie für den französischen Filme gleichermaßen eine Blütezeit. Während der französische Film sich der Komödie hingibt, befasst sich die siebente Kunst in Deutschland mit seiner Geschichte. In Frankreich sind es 1993 die Erfolge von „Die Besucher“ von Jean-Marie Poiré, von „Dinner für Spinner“ (1998) von Francis Weber, von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (2001) von Jean-Pierre Jeunet und „Asterix und Obelix: Mission Kleopatra“ (2002) von Alain Chabat.
Der deutsche Film blickt dagegen zurück. Von „Der Tunnel“ (2001) von Roland Suso Richter über „Goodbye Lenin“ (2003) von Wolfgang Becker, „Der Untergang“ (2004) von Oliver Hirschbiegel und „Das Leben der Anderen“ (2006) von Florian Heckel von Donnersmarck bis hin zu „Die Welle“ (2009) von Dennis Gansel beschäftigen sich die Filme mit der Zeit des Nationalsozialismus sowie der deutschen Teilung und feiern damit einen großen internationalen Erfolg.
Die letzten drei Jahre des französischen Films sind florierend, der seine drei Kinohits „Willkommen bei den Sch’tis“ (2008) von Danny Boon, „Ziemlich beste Freunde“ (2011) von Olivier Nakache und Eric Toledano sowie „The Artist“ (2011) von Michel Hazanavicius in mehrere Sprachen übersetzt und international vorführt. Hinzukommt, dass der französische Animationsfilm („Das große Rennen von Belleville“ (2003) von Sylvain Chomet und „Die Katze des Rabbiners“ (2011) von Johann Sfar und Antoine Delesvaux) auch große Erfolge in Frankreich und im Ausland feiern kann.
Der deutsche und der französische Film haben wie zu Beginn des Films je nach Kultur und Geschichte unterschiedliche Wege eingeschlagen. Beide profitieren heute von internationalem Ruhm und probieren immer wieder neue unterschiedliche Hilfsmittel aus, die für sie jeweils spezifisch geworden sind. Trotzdem bleibt eine Schwierigkeit, die bestehen bleibt: die Vereinbarung der essentiellen Bestandteile der Medien: der Markt und die Kultur.