Von Rabea Koß
Fotos: Rabea Koß
Ein Casino. Zwei Casinos. Drei Casinos. Beim Spaziergang durch die nördliche Brunnenstraße, wenn man die Überreste der Mauer, und damit auch die Touristen, hinter sich gelassen hat, darf man auf der Suche nach Sehenswertem nicht den Mut verlieren. Galerien, Cafés und Boutiquen werden plötzlich abgelöst von Internetcafés, Solarien – und eben Casinos. „Über Wedding hört man immer nur ‚Der kommt‘ oder ‚Da ist es so finster‘“, berichtet Ela Kagel, eine der Mutigen, die sich hierher vorgewagt haben. Schon lange wird darüber diskutiert, ob nicht endlich Bewegung in den ehemaligen Stadtbezirk, nun Ortsteil von Mitte, kommen müsste. Doch trotz der Nähe zu Mitte und Prenzlauer Berg und der vermeintlich billigeren Miete ist der Wedding vom Szenekiezdasein weit entfernt. Einige Wenige jedoch gibt es, die sich der Gegend und ihren leerstehenden Gebäuden angenommen haben.
2009 begann die Geschichte des Stattbads. Seit 2002 lag das Schwimmbad in der Gerichtstraße in einem Dornröschenschlaf, dann wurde es von Investor Arne Piepgras mit den Plänen für eine Kunsthalle aufgeweckt. Der Senat lehnte den Vorschlag ab, doch die Kunst kam trotzdem. Junge Künstler richteten Ateliers und Proberäume ein, regelmäßige Ausstellungen und Partys in den leeren Schwimmbecken verhalfen dem alten Gebäude zu neuem Ruhm. Sogar Moby erschien schon zum spontanen Platten auflegen.
Die Umnutzung des Stadtbads Wedding steht exemplarisch für ein Umdenken, das in den letzten 20 Jahren in Deutschland stattgefunden und nun auch den Wedding erreicht hat: Umnutzung statt Abriss. Leerstehende Gebäude, die ihren Ursprungszweck nicht mehr erfüllen können, weil die Sanierung zu teuer wäre oder schlichtweg kein Interesse von Investoren besteht, werden von experimentierfreudigen Zwischennutzern für wenig Geld neu belebt und damit der Leerstand verhindert. Problematisch wird es allerdings, wenn zahlungskräftige neue Investoren gefunden sind, die die Zwischennutzer nicht länger dulden wollen. Diskussion um die Aufwertung eines Kiezes durch Kreative und die damit einhergehende Bodenwertsteigerung gibt es in Berlin mehr als genug. YAAM, Bar25 und der Flughafen Tempelhof sind einige Beispiele. Doch während in den anderen Bezirken der Flächenkampf zwischen subkulturellen Zwischennutzern und Großinvestoren tobt, geht es im Wedding noch einigermaßen friedlich zu. Für große Bürokomplexe, Hotels oder ähnliches, besteht hier – noch – kein Interesse. Auch die Politik weiß im Prinzip, worauf es mittlerweile ankommt: Ressourcen schonen. Nachhaltigkeit ist das neue Motto der Stadt-und Raumplanung. „Möglichkeitsräume müssen erhalten werden“ meint auch der Bezirksbürgermeister von Mitte, Christian Hanke (SPD). Da passt es gut, dass Identität und Geschichtsbezug von Gebäuden sowieso immer gefragter sind.
Doch zurück zur Brunnenstraße. Läuft man nämlich lang genug mit wachem Blick an grell blinkenden Schriftzügen vorbei, steht man plötzlich verdutzt vor einem Siebziger Jahre-Bau mit großen Schaufenstern, über denen der Schriftzug „Supermarkt“ prangt. Ein Supermarkt namens Supermarkt? Soviel Kreativlosigkeit ist selbst dem Wedding kaum zuzutrauen. Hinter von Neonlichtern erhellten Fenstern sitzen junge Menschen mit Club Mate und Laptop auf dem Schoß.
„Ressourcenzentrum“ nennt Ela Kagel diesen Ort, der nach seiner früheren Bestimmung benannt ist. Der leerstehende Maier’s Supermarkt wurde von der freien Kuratorin und Produzentin zusammen mit den IT-Unternehmern David Farine und Zsolt Szentirmai mehr oder weniger zufällig entdeckt. Auch sie waren der Meinung, dass „für Viele Berlin an der Bernauer Str. endet“, sahen die riesige Fläche aber als Chance, daran etwas zu ändern. Nach Verhandlungen mit den Eigentümern der Degewo begann im Sommer 2011 der Umbau. Mit Hilfe der Familien und Möbeln aus zweiter Hand – zum Beispiel Sofas aus dem Sage-Club in Kreuzberg – wurde die ehemalige Ladenfläche umgestaltet. Das Supermarktgefühl wird der Besucher, sobald er in dem großen Raum steht, trotzdem nicht ganz los. Das liegt vor allem auch an der typisch niedrigen Supermarktdecke, die absichtlich in ihrem alten Zustand belassen wurde – weil sie sich als praktischer Schallschutz herausstellte. Dort wo einst die Wurst- und Kühltheke stand, befindet sich nun die Bühne, im Keller haust in ehemaligen Kühlräumen ein Tonstudio, eine Architektenwerkstatt und ein Livestreaming-Studio. Die Überlegung dort unten Partys zu feiern, wurde aufgrund ungünstig gelegter Rohrleitungen verworfen – Die Nachbarn hatten sich beschwert. Co-Working lautet nun das Motto. Die benachbarten, ebenfalls leerstehenden Ladenflächen wurden gleich mit angemietet und zu Arbeitsplätzen umgestaltet, an denen Selbstständige aus allen Domänen Platz finden. Vor allem Start-up-Unternehmen, doch auch eine Schriftstellerin, ein Anwalt und ein Produzent von Holunderblütensirup haben sich hier niedergelassen, um neben, und manchmal auch miteinander, zu arbeiten.
Zu Beginn war viel Kommunikationsarbeit nötig, um das Projekt bekannt zu machen; es herrschte wenig Nachfrage. Doch mittlerweile sind die Kapazitäten fast vollständig ausgenutzt und der Supermarkt „lebt vom Widerspruch“, erzählt Ela Kagel. Sie wünscht sich ein Kreativzentrum, das für alle offen ist. Durch das Café im Eingangsbereich ist der Raum täglich geöffnet, ob für Kulturschaffende oder Anwohner. Anfangs seien Letztere noch skeptisch gegenüber der Umgestaltung des alten Supermarktes gewesen, mittlerweile würde er aber akzeptiert, nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen: „Die Nachbarn nutzen jetzt das Internet mit und sind dafür toleranter, was die Lautstärke angeht“.
Auch das Bezirksamt ließ sich von den Plänen der drei Unternehmer überzeugen. Erwartungsgemäß herrschte anfangs Skepsis bei den Verantwortlichen: „Kreative im Wedding?!“ dachte sich Herr Tolan von der Wirtschaftsförderung und war dann verblüfft über das vorhandene Interesse. Mittlerweile fördert das Bezirksamt den Supermarkt mit Zuschüssen aus dem europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Die Förderung machte es möglich, langfristig zu planen. Erfolge wie die Ausrichtung der Zedler-Preisverleihung von Wikipedia im Sommer 2012 verstärken den Eindruck, dass der Supermarkt ein Erfolgskonzept ist und das Interesse an Gebäuden mit Charakter groß. Gerade feierte das Projekt mit einem Tag der offenen Tür einjähriges Jubiläum. Ab dem 24. Januar findet hier außerdem im Rahmen des „Vorspiels“ zur Transmediale 2013 die dreitägige Veranstaltung „Illuminations of Wedding“ statt. Ausstellungen, Workshops und Podiumsdiskussion sollen unter anderem der Frage nach der Identität des Weddings auf den Grund gehen und Kunst und Kultur im öffentlichen Raum diskutieren.
Zukunftsort Brunnenviertel ist der optimistische Name der Initiative, die aufbauend auf dem Supermarktprojekt das Viertel attraktiver machen soll. Unabhängig hiervon zieht mittlerweile auch der Brunnen70, ein Club im ehemaligen Möbelhaus neben dem Supermarkt, immer mehr Feiernde in den Wedding. „Was dem Wedding gefehlt hat, waren Orte“ weiß Christian Hanke. Die Politik ist sich bewusst, dass die Kreativwirtschaft den Wedding beleben kann. Die Frage, wie diese Kultur- und Kreativräume erhalten bleiben können, auch nach der Aufwertung eines Kiezes und trotz Angeboten von Großinvestoren beschäftigt ganz Berlin.
Kommt nun endlich der viel beschworene Aufstieg des wilden Weddings? Rund um das Stattbad Berlin, das auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat, bemerkt man bereits erste Veränderungen. Die „Stadt Werke Wedding“ haben sich in der Nähe angesiedelt, die Stattbar im Eingangsbereich des ehemaligen Schwimmbads ist immer besser besucht. Auch kritische Stimmen, die von Verdrängung sprechen, haben sich bereits erhoben. Erste Anzeichen, dass auch der Wedding nicht von der Gentrifizierungsdebatte verschont bleiben wird. Die Anwohner jedenfalls zeigen noch Verwunderung gegenüber dem vermehrten Auftauchen junger Menschen mit Jutebeuteln und großen Brillen. „Im Wedding trägt man keine Brille.“ lautet der Kommentar eines Jugendlichen. Und zwei kleine Jungs, die sich in die Stattbar verirrt haben, sehen sich ratlos in dem gekachelten Vorraum um, fragen „Was ist das denn hier?“ und suchen lieber schnell nach dem Ausgang.